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Thursday, July 12, 2018

Karl Müller -- Warum soll Deutschland eine Konfrontation gegen Russland anführen?

von Karl Müller

Die US-Forderung an Deutschland, auch militärisch zu führen, meint es nicht gut mit den Deutschen. Die Forderung ist ein Schritt an den Rand des Abgrunds.

2017 haben die Nato-Staaten 957 Milliarden US-Dollar für Militärausgaben verwendet.1 Von dieser fast 1 Billion US-Dollar entfielen 707,2 Milliarden US-Dollar auf die nordamerikanischen Nato-Staaten (USA und Kanada), wovon allein die USA 610 Milliarden Dollar bestritten. 249,8 Milliarden US-Dollar entfielen auf die europäischen Nato-Staaten. Für das Jahr 2018 sind beträchtliche Steigerungen angesagt. Russland hat im Jahr 2017 umgerechnet 66,7 Milliarden US-Dollar für sein Militär ausgegeben. Das waren 2,2 % weniger als im Vorjahr, und auch im Jahr 2018 werden die Militärausgaben Russlands weiter sinken.2 Prozentual gab Russland damit nur rund 7 %(!) der Militärausgaben aller Nato-Staaten aus. Im Vergleich mit den europäischen Nato-Staaten waren es weniger als 30 %.

Kein Grund für Nato-Aufrüstung

Der nun schon Jahre währende Druck auf alle Nato-Staaten, ihre Rüstungsausgaben auf mindestens 2 % ihres Bruttoinlandsproduktes zu steigern – was ja immer wieder mit der vermeintlichen russischen Gefahr begründet wird –, ist deshalb nicht nachvollziehbar. Russlands Rüstungsanstrengungen gehen nicht in die Richtung, mit der Nato gleichziehen zu wollen – der russische Präsident selbst hat in den vergangenen Jahren immer wieder betont, diesen tödlichen Fehler der Sowjetunion nicht wiederholen zu wollen –, sondern vor allem so gerüstet zu sein, dass ein Angriff der Nato auf Russland für die Nato-Staaten ein tödliches Risiko ist.
Die ständig wiederholte Behauptung, Russland habe aggressive Absichten und habe dies in Georgien, der Ukraine und in Syrien gezeigt, hält keiner ehrlichen Überprüfung stand. Diese Behauptung wird auch durch ständige Wiederholung nicht richtiger.

Aggressive Nato-Absichten

Es muss deshalb davon ausgegangen werden, dass hinter den Forderungen nach höheren Rüstungsausgaben in den Nato-Staaten aggressive Absichten stehen, dass für den militärisch-industriellen Komplex mehr Einfluss und Einnahmen gesichert werden sollen oder dass die Bürger der Nato-Staaten wegen zunehmender innerer Probleme durch die Militarisierung ihrer Länder diszipliniert werden sollen. Auch eine Kombination aller drei Punkte ist nicht unwahrscheinlich.
Tatsache ist, dass die «Eliten» der Nato-Staaten ihr Politik-, Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell noch immer für das beste in der Welt halten und dieses Modell nach wie vor, zumindest langfristig, weltweit durchsetzen wollen. Die russische Führung kennt solche Ambitionen nicht. Das Land wäre ausreichend genug mit seinen inneren Aufgaben beschäftigt und wünscht sich wohl nichts mehr, als sich endlich mit voller Kraft diesen Aufgaben zuwenden zu können.

Russland soll nicht zur Ruhe kommen

Aber die Regierungen der Nato-Staaten haben sich schon länger entschieden, Russland nicht zur Ruhe kommen zu lassen – zumindest so lange nicht, bis es sich den Nato-Staaten gebeugt hat. Das belegen die vergangenen 27 Jahre seit der Auflösung der Sowjetunion. Dies wird zu Recht auch in Russland so gesehen.
Dass gerade Deutschland, dessen Politik im Zweiten Weltkrieg gegen das russische Volk grösste Schuld auf sich geladen und das trotzdem seit Ende der achtziger Jahre grosses russisches Entgegenkommen erfahren hat, die europäische Front gegen Russland anführen soll, ist eine besonders schlimme Perversion politischer Moral.

Viele Deutsche gegen antirussische Politik

Viele Menschen in Deutschland sträuben sich dagegen. So berichteten die Deutschen WirtschaftsNachrichten am 8. Juni 2018, dass die massiven US-amerikanischen Militärtransporte – in diesen Tagen werden mehr als 2000 weitere Militärfahrzeuge im Rahmen der Operation Atlantic Resolve3 über die Strassen Brandenburgs nach Polen verlegt – auf den Widerspruch der ostdeutschen Bevölkerung und auch der Landesregierung von Brandenburg stossen. Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD) wird mit den Worten zitiert: «Ich denke, dass es uns auf lange Sicht nicht hilft, wenn Panzer auf beiden Seiten der Grenze auf und ab fahren.» Der Artikel zitiert auch die in Ostdeutschland bekannte Ökonomin Waltraud Plarre: «Das Gefühl, das viele Westdeutsche nicht verstehen, ist, dass die Ostdeutschen sagen: Die Russen haben uns nie geschadet. […] Wir haben nie erlebt, dass die Russen böse Absichten haben. Und nun zu versuchen, alle gegeneinander aufzuwiegeln, liegt nicht im Interesse des deutschen Volkes – weder der Menschen im Westen noch der im Osten.»

Nato-Botschafterin der USA: Deutschland soll gegen Russland führen

Trotzdem (oder gerade deshalb) wird nichts unversucht gelassen, Deutschland in die Führungsrolle in einer Konfrontation gegen Russ-land zu drängen. Jüngstes Beispiel sind Aussagen der US-amerikanischen Nato-Botschafterin Kay Hutchison in einem Interview mit dem Deutschlandfunk vom 8. Juni 2018. Die Botschafterin geht weit über die auch von ihr wiederholte Forderung (sie nennt es «Bitte») der US-Regierung hinaus, Deutschland solle 2 % seines Bruttoinlandsproduktes – das wären nach heutigem Stand 65 Milliarden Euro, also für sich genommen schon mehr als Russland – für sein Militär ausgeben. Die amerikanische Nato-Botschafterin konzentriert sich auf das Feindbild Russland («[…] damit wir stark genug sind, Russland abzuschrecken», «Russland hat einen schädlichen Einfluss gehabt […]») und fordert genau in diesem Zusammenhang: «Wir wünschen uns, dass Deutschland Führung übernimmt.»
Selbstverständlich weiss die Nato-Botschafterin der USA um die deutsche Geschichte und die in Deutschland nach 1945 entstandene und bis heute nachwirkende Grundhaltung der meisten Deutschen: «Nie wieder Krieg!» Sie greift den Ball der Interviewerin auf, die diese Grundhaltung zu einer deutschen Besonderheit erklärte, die etwas mit deutschen Schuldgefühlen zu tun habe.

Die Deutschen werden «entschuldigt» …

Die US-Botschafterin «entschuldigt» die Deutschen. Deutschland sehe leider noch nicht ein, «dass es über seine Vergangenheit hinaus gewachsen ist». Deutschland sei heute «demokratisch» und habe – eine interessante Formulierung, wer wohl damit gemeint ist? – «Wächter der Demokratie». Sie fügt hinzu, auf die deutsche Führungsrolle zurückkommend, sie glaube, «dass sich Europa das wünscht. Weil Deutschland so erfolgreich aus seiner dunklen Geschichte gekommen ist, weil es die Wiedervereinigung [auch dank vor allem massiver US-amerikanischer Unterstützung und sicher nicht ohne US-amerikanische Interessen] geschafft hat.» Und dann nochmals: «Es gibt keinen Grund, warum Deutschland nicht die Führungsrolle in Europa innehaben sollte, aber das bedeutet auch, dass man in der Lage sein sollte, sich selbst zu verteidigen.» …
Aber niemand bedroht Deutschland. Ist «Verteidigung» also nur ein Propagandawort für eine geplante Aggression gegen Russland? Und werden die Deutschen auf diese Schalmaientöne hereinfallen?

… nicht aus Liebe zu den Deutschen

Jeder Deutsche tut gut daran, folgendes zu berücksichtigen:
  • Die Grundhaltung «Nie wieder Krieg!» hat nichts mit Schuldgefühlen zu tun, auch wenn es berechtigte Schuldgefühle und bitterste Erfahrungen waren, die diese Grundhaltung mit geprägt haben. Der Friedenswille und die Ablehnung von Gewalt und Krieg gehören zur Natur des Menschen, und jeder Mensch, ganz unabhängig von seiner Geschichte, sollte diese Grundhaltung haben.
  • Die US-Botschafterin und auch die anderen Kriegstreiber, die Deutschland eine Führungsrolle zusprechen wollen, tun dies nicht aus Liebe zu Deutschland und den Deutschen. Man muss insbesondere bei den Kriegstreibern eher mit dem Gegenteil rechnen. Ein Krieg gegen Russland unter deutscher Führung würde die Vernichtung Deutschlands bedeuten. Die Kriegstreiber wissen das sehr genau.
  • «Deutsche Führungsrolle» heisst im Klartext: Deutschland soll die Hauptlast der Konfrontation und einer möglichen Nato-Aggression tragen. Welchen Anteil an den Vernichtungsfeldzügen des Ersten und des Zweiten Weltkrieges auch immer die Deutschen selbst hatten – er war sehr hoch –, es hat genauso nichtdeutsche, vor allem angelsächsische Interessen daran gegeben, dass sich Deutschland und die Deutschen im Kampf gegen Russland und die Sowjetunion ebenfalls ausbluten – nicht nur im Zweiten, sondern auch schon im Ersten Weltkrieg. Ist das heute wirklich anders?

Kalkül und Täuschung

Wie ist es in diesem Zusammenhang zu beurteilen, dass Mitglieder der deutschen Regierung wie die Ministerin von der Leyen deutlich zeigen, dass sie der Forderung nach «Führung» gerne nachkommen, dass deutsche Politiker mit ihrem Gerede von «mehr Verantwortung übernehmen in der Welt» «führen» wollen, dass die deutschen Militärausgaben tatsächlich auf die 2 %-Höhe geschraubt werden sollen – so hat es die deutsche Kanzlerin gesagt – und dass jetzt kontinuierlich aufgerüstet werden soll? Auch mit einer im baden-württembergischen Ulm gelegenen neuen Nato-Kommandozentrale für schnelle Truppentransporte an die russische Grenze. Ist dies nur eiskalte Berechnung? Oder möchten diese deutschen Politiker nach zwei verlorenen Weltkriegen in einem dritten Weltkrieg endlich einmal auf der «richtigen Seite», auf der Seite der «Sieger» stehen? Wie viel Kalkül, aber auch wie viel Täuschung liegt einer solchen Politik zugrunde?      •
3  Die Operation Atlantic Resolve (OAR) ist eine 2014 begonnene und von den USA durchgeführte Operation zur ständigen Verbringung von US-Truppen in die ehemaligen Staaten des Warschauer Paktes, die heute Nato-Staaten sind. Behauptet wird, mit ihr solle auf den Konflikt in der Ukraine und die Politik Russlands reagiert werden. Sie ist keine Nato-Operation, sondern wird von den USA bilateral organisiert. Seit 2014 werden dabei Manöver und militärische Schulungen unter US-Führung in Estland, Lettland, Litauen, Polen, Rumänien und Bulgarien durchgeführt.

Wirtschaftsforum in St. Petersburg zeigt Alternativen auf

km. Dass die Konfrontation gegen Russ-land nicht alternativlos ist, zeigte Ende Mai 2018 das Internationale Wirtschaftsforum in St. Petersburg, über das die «Neue Zürcher Zeitung» am 26. Mai berichtet hat. Aus dem Ausland waren der französische Präsident Macron, der japanische Ministerpräsident Abe, der chinesische Vizepräsident Qishan und die geschäftsführende Direktorin des IWF Lagarde angereist. Macron, so die «Neue Zürcher Zeitung», «rief zu einem Neuanfang in den Beziehungen [zu Russ-land] auf – Russland sei Teil Europas, und man müsse die Differenzen überwinden und die gemeinsamen Interessen auf dem Kontinent in den Vordergrund stellen».
Die Zeitung berichtete weiter: «In den zahlreichen Gesprächsrunden wurde immer wieder betont, wie gross das gegenseitige Vertrauen zwischen deutschen bzw. amerikanischen und russischen Geschäftsleuten sei.» Die Beziehungen litten aber sehr unter den Sanktionen. Dazu heisst es im Bericht: «Die amerikanischen Unternehmensvertreter hoffen in einem politisch stark verdüsterten bilateralen Umfeld fast schon mit verzweifelter Zuversicht auf den gesunden Menschenverstand und einen möglichst baldigen politischen Dialog auf höchster Ebene.» Die deutschen Unternehmer sähen «in den für sie lästigen und unnötigen Wirtschaftssanktionen […] ein unnötiges politisches Hindernis für das weitere Aufblühen der Wirtschaftskontakte». Der Aufsichtsratsvorsitzende von Tui und frühere langjährige Vorsitzende des Ost-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft, Klaus Mangold, regte an, «die deutschen und französischen Wirtschaftsvertreter sollten gemeinsam die europäische Politik davon überzeugen, eine Exit-Strategie zum Sanktionsregime zu entwickeln».

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